Vom Krieg gegen das Virus zu einer systemischen Perspektive

„Die eigentlichen Entdeckungsreisen bestehen nicht im Kennenlernen neuer Landstriche, sondern darin, etwas mit anderen Augen zu sehen.“
- Marcel Proust



Die Art und Weise, wie wir kollektiv auf die Corona-Krise reagieren, sagt viel über unser Denken und unsere Kultur aus, über die Art und Weise, wie wir gewohnt sind, Probleme zu definieren und eine Lösung für diese zu suchen. In den letzten Jahrtausenden der Entwicklung unserer westlichen Kultur haben wir gelernt, uns selbst als Menschen als getrennt von allem anderen zu sehen und zu erleben - getrennt von der Natur (wie es im Wort Um-welt zum Ausdruck kommt), getrennt von anderen Menschen und getrennt von einem grösseren Ganzen. In dieser Sichtweise sind wir umgeben von toter Materie, in einem chaotischen Universum voller Gefahren, in dem wir uns als das Einzige sehen, das Bewusstsein hat. Der Autor und Philosoph Charles Eisenstein nennt die unserem aktuellen Denken und Handeln zugrundeliegende Geschichte “Die Geschichte der Trennung”(*1). Entsprechend sehen wir das, was wir als Problem wahrnehmen, als etwas sich ausserhalb von uns Befindendes, das bekämpft und kontrolliert werden kann und muss. Wir suchen nach der einen Ursache für unser Problem und die Lösung lautet in dieser Denkweise immer gleich: Diese eine Ursache, der “Feind”, muss bekämpft und zerstört werden. So sind wir in den Krieg gezogen gegen alles Mögliche: Unkraut, Insekten, Bakterien, Wölfe, Terroristen… und wenn wir sie nur komplett auslöschen könnten, wäre unser Problem gelöst. Dieses lineare Denken übersieht aber die Komplexität der Situationen und allzu oft kreieren unsere Lösungen von gestern die Probleme von morgen (antibiotikaresistente Bakterien, unfruchtbare Böden, Bienensterben etc.). Unbewusst ist unsere Sprache durchzogen von Kriegsmetaphern. Sogar wenn wir die Welt verbessern wollen, sprechen wir vom “Kampf gegen Hunger” oder “Kampf gegen den Klimawandel”.

Auch in der aktuellen Coronakrise laufen unsere kollektive Reaktion und die Reaktion unserer politischen Institutionen nach diesem Muster ab. Wir haben das Virus definiert als zu bekämpfenden Feind und befinden uns jetzt im Krieg dagegen, der wie jeder andere Krieg alle möglichen Massnahmen rechtfertigt die sonst nicht denkbar wären, wie zum Beispiel Eingriffe in unsere Rechte als Bürger (z. B. eingeschränktes Versammlungsrecht in Quarantäne) oder in die Wirtschaft (z. B. verordnete Schliessung von Geschäften). Die Lösung für das Problem, so denken wir, besteht darin, den Virus auszumerzen, zum Beispiel durch die Entwicklung von einer entsprechenden Impfung. Wenn uns das gelingt, so denken wir, dann ist die Welt wieder in Ordnung. Aber der Krieg wird das Problem nicht lösen. Die Frage “Wie können wir Covid-19 möglichst schnell und effektiv bekämpfen?” wird nicht zu einer nachhaltigen Lösung führen. Vielleicht gelingt es uns, Covid-19 mit einer Impfung zu bezwingen, aber bis wann? Bis zur nächsten Mutation? Bis zum nächsten Virus?

Ich will damit nicht sagen, dass wir die aktuellen Kontrollmassnahmen sein lassen sollten. Sie haben ihre Richtigkeit und Berechtigung, und selbstverständlich macht es viel Sinn, Menschen aus Risikogruppen zu schützen und die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, so dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Auch ist es sinnvoll, neue Medikamente zu entwickeln, um erkrankte Menschen bei der Genesung zu unterstützen. Kontrollmassnahmen allein genügen jedoch nicht, um das, was wir als “das zu bekämpfende Problem“ identifiziert haben, zu lösen.

Die Logik der Kriegsmentalität treibt sonderbare Blüten, die ich mit einem weiteren Beispiel veranschaulichen möchte. Auf Avaaz ruft der UN Generalsekretär António Guterrez mit einer Petition zu einem weltweiten Waffenstillstand in der Coronakrise auf. Seine Argumentation: “Unsere Welt steht vor einem gemeinsamen Feind: Covid-19. Es ist an der Zeit, bewaffnete Konflikte zu beenden und sich gemeinsam auf den wahren Kampf unseres Lebens zu konzentrieren.” Während das Vorhaben ehrenhaft ist und es selbstverständlich wünschenswert wäre, wenn uns diese globale Krise vereinen und zu einem Waffenstillstand führen könnte, frage ich: Wie nachhaltig ist es, einen Waffenstillstand auf einem neuen gemeinsamen Feind zu begründen? Wer wird der nächste gemeinsame Feind sein, nachdem Covid-19 besiegt ist? Kann Frieden auf dem Bekämpfen eines gemeinsamen Feindes aufgebaut werden? Krieg wird immer weiteren Krieg hervorbringen, in neuen Formen, mit neuen zu bekämpfenden “Feinden”.

Eine andere Denkweise ist gefragt für eine tatsächliche Lösung der Coronakrise, eine ganzheitliche und systemische Perspektive. Und die Frage, die wir uns stellen sollten, ist viel schwieriger zu beantworten: “Wie sind wir selber Teil des Problems?” Es ist einfach gegen einen äusseren Feind zu kämpfen, der vernichtet werden soll. Teil des Problems und seiner Ursachen zu sein bedeutet aber, dass wir zu seiner Lösung auch etwas in uns verändern müssen. Dass wir unser Denken und Handeln, unsere Lebensweise und die Art und Weise, wie wir mit unserer Mit-welt in Beziehung sind, verändern müssen. Es bedeutet, dass wir auch das Coronavirus nicht mehr als etwas betrachten, das unabhängig von uns und unserem Handeln existiert.

Im Sinne eines vernetzten, systemischen Denkens können wir viele Fragen stellen, die uns verschiedenen Teilaspekten eines grösseren Verständnisses näher bringen können. Zum Beispiel “Wie trägt unser Verhalten zur Entstehung von Pandemien bei?” - eine Frage, der Sonia Shah in ihrem Artikel “Woher kommt das Coronavirus?” nachgeht und aufzeigt, wie die durch den Mensch verursachte Zerstörung von natürlichen Lebensräumen von Wildtieren die Übertragung von Erregern von Infektionskrankheiten auf die Menschen begünstigt. Intakte Ökosysteme haben eine grosse Kapazität zur Selbstregulierung, welche zunehmend durch den Mensch zerstört wird, zum Beispiel durch die Abholzung der Primärwälder. Und wir können uns mit vielen weiteren Fragen auseinandersetzen, wie mit der Frage “Welche Rollen spielen Viren und Bakterien im menschlichen Körper?” oder “Wie ist unser Leben und anderes Leben auf Erden verbunden mit dem von Viren und Bakterien?” oder “Welche Beziehung haben wir als Gesellschaft zu den Themen Krankheit und Tod?” - Fragen, mit denen sich Charles Eisenstein in seinem Essay “The Coronation” beschäftigt. Unser eigenes Leben, unser eigener Körper, den wir so gerne als getrennten Organismus wahrnehmen, ist bei genauerem Hinschauen gar nicht getrennt denkbar vom Leben von Bakterien, Viren, Pilzen und anderen Lebewesen. In unserem Körper leben mehr dieser Lebewesen, als dass der Körper eigene Zellen hat.(*2)

Keine dieser Fragen wird uns zu einer einfachen Antwort und zu einer einfachen Lösung führen, oder zu einer einfachen Ursache, die es zu kontrollieren gilt. Aber all diese Fragen werden uns viele Handlungsmöglichkeiten aufzeigen, wie wir zu einer nachhaltigeren Zukunft beitragen können.

Wenn wir eine Problemstellung aus einer systemischen Perspektive betrachten, suchen wir nicht nach der einen und einzigen Ursache, sondern wir suchen nach Beziehungen und nach einem Ungleichgewicht in diesen Beziehungen. Wir suchen nach kausalen Beziehungen in einer Welt, in der alles mit allem verbunden ist, in der alles sich gegenseitig beeinflusst. Ein Netzwerk von Beziehungen, die dynamisch sind, sich endlos verzweigen und verändern. Ein lineares Vorgehen wird uns nicht sehr weit bringen in einem komplexen System. Eine andere Art der Lösungsfindung ist gefragt(*3): Beobachten, wahrnehmen, ausprobieren, wieder beobachten was geschieht, anpassen, wieder ausprobieren… Und die Lösungen, die wir dabei finden, werden auch nicht die “eine und einzig richtige Lösung für dieses Problem” sein, sondern sind ebenfalls situationsbezogen und dynamisch (an einem anderen Ort, in einem anderen Kontext, in einem anderen System sieht die Lösung etwas anders aus). Unser Körper ist ein Ökosystem. Wenn die verschiedenen Beziehungen im Gleichgewicht sind, nennen wir das Gesundheit. So verhält es sich auch mit dem grösseren, uns umgebenden Ökosystem, von dem wir ein integraler Teil sind, nicht getrennt. Charles Eisenstein nennt diese neue und zugleich uralte Geschichte “Die Geschichte vom Inter-Sein” (oder englisch Interbeing), basierend auf dem buddhistischen Mönch und Friedensaktivisten Thich Nhat Hanh. 

Wenn wir neue, nachhaltige Lösungen finden wollen, sind wir aufgefordert, eine neue Art des Denkens und des Sehens zu entwickeln. Um die grossen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern, sei es bewaffnete Konflikte, die Klimakrise oder eine Pandemie, müssen wir gemeinsam lernen, mit anderen Augen zu sehen.

 1* Eine gute Einführung dazu bietet das Buch “Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich” von Charles Eisenstein. Wie unser Denken und Handeln auf kollektiven Geschichten und Mythen basiert, kann z. B. in Yuval Nora Hararis Buch “Eine kurze Geschichte der Menschheit” nachgelesen werden.

2* Die Zahlen in wissenschaftliche Schätzungen liegen bei der Frage zur Anzahl Bakterien z. T. weit auseinander: von einem Verhältnis, das leicht mehr Bakterien im menschlichen Körper zählt als eigene Zellen, bis zu Schätzungen die aussagen, dass im und auf dem menschlichen Körper zehnmal mehr Bakterien leben als der Körper eigene Zellen hat.

3* Das Cynefin-Framework von Dave Snowden bietet eine Theorie zu komplexen adaptiven Systemen und Anhaltspunkte zu welche Art von Lösungsansätzen in welchem Kontext hilfreich sind.

Weiterführende Literatur:

Möglichkeiten zum Handeln:


Sarah Friederich hat Sozialanthropologie und Allgemeine Ökologie studiert. Sie befasst sich mit der neuen, entstehenden Kultur. Bei collaboratio helvetica ist sie zuständig für Community Building. Daneben ist sie selbständig erwerbstätig und begleitet verschiedene Projekte in Design und Facilitation von Veranstaltungen und Gruppenprozessen sowie in der Kommunikation. Sie verfügt über langjährige Arbeitserfahrung in NGOs und sozialen Projekten im Bereich soziale und ökologische Gerechtigkeit in der Schweiz und in Bolivien.

Previous
Previous

Unsere Umwelt, die erste Pädagogin

Next
Next

Die Natur, die integriert und verbindet