Nächster Halt: Denkpause

Nora Wilhelm unter den 80 Schweizer Macherinnen in der Spezialausgabe zum 80 Jährigen Geburtstag der Annabelle! Mit nächster Halt: Denkpause fragt sie sich «Wohin rennen wir eigentlich?»

Nora Wilhelm in der Annabelle

In raschen Schritten durchquere ich die Halle des überfüllten Berner Bahnhofs. Ich muss mehreren Passanten ausweichen, rufe «Entschuldigung», eile den Gang entlang, die Treppe hoch, springe gerade noch in den Zug, als das Pfeifen ertönt. Uff, knapp geschafft! Mit Schweizer Pünktlichkeit ist nicht zu spassen. Sprinte ich für einmal nicht auf den Zug, sondern gehe gemächlich bis zum Gleis, so rennen andere an mir vorbei. Da fragt man sich doch irgendwann: Wohin rennen wir eigentlich?

Kollektiv rennen wir auf das Ende unserer Zivilisation zu. Die Welt, so wie wir sie kennen und in den letzten Jahrhunderten gestaltet haben, zerbröckelt an allen Ecken. An unserem ökonomischen System zweifeln mittlerweile auch diejenigen, die es erdacht haben. Weltweit steigt die soziale Ungleichheit und damit auch die politische Unruhe. Mehr als die Hälfte der Biodiversität haben wir schon verloren. Und mittendrin: die Schweiz. Unser Land, unsere Demokratie gilt als Vorbild, das Bildungsniveau ist hoch, das Wirtschaftswachstum stabil, in unseren Seen kann man baden, die Berglandschaft ist wunderbar. Wir haben es gut auf unserer kleinen Insel des Fortschritts.

Doch besinnen wir uns darauf, was es braucht, um diesen scheinbar heilen Flecken aufrechtzuerhalten, fällt die Bilanz weniger vorbildlich aus. Im Mai hatten wir Schweizerinnen und Schweizer bereits alle Ressourcen verbraucht, die uns für das Jahr 2018 zustehen, wollten wir dem Planeten erlauben, sich zu regenerieren. Unser CO2-Fussabdruck ist erschreckend hoch, beim Fliegen sind wir Weltmeister.

Auch wir stecken in einer grossen Geschichte fest, in einem Narrativ des steten Wachstums, wo sich Glück und Zufriedenheit auf den nächsten Einkauf stützen, die nächste Beförderung. Es braucht immer mehr, überall, obwohl auch Laien erkennen können, dass das Konzept des exponentiellen Wachstums auf einem endlichen Planeten keinen Sinn ergibt. Wir werden zwar nicht die ersten sein, die aufgrund der Klimaerwärmung versinken oder vor der Dürre flüchten müssen, aber auch für uns persönlich hat das Konzept des «Immer-schneller-immer-weiter»

Konsequenzen: Der Leistungsdruck in der Gesellschaft ist hoch, die Anzahl der Burnouts steigend – auch ich bin keine Ausnahme, schreibe ich doch diese Zeilen in Eile und unter Zeitdruck. Anstatt die Notbremse zu ziehen, legen wir an Tempo zu, bis die Räder dereinst aus den Schienen springen. Die Schweiz ist ein Uhrenland. In dieser kulturellen Besonderheit möchte ich jedoch kein Diktat der Effizienz sehen, sondern eine Art Wertschätzung, eine Akzeptanz, dass Zeit unser wichtigstes Gut ist. Doch Innehalten geniesst heute keinen guten Ruf. Wir zelebrieren das Machen und identifizieren uns mit unserem Tun. Würden wir hingegen innehalten, könnten wir einen Blick auf das Ziel werfen und uns fragen, ob wir nicht eine Kursänderung einschlagen sollten.

Schliesslich müssen wir uns erst eine Alternative vorstellen, bevor wir danach handeln können. Und so wünsche ich mir, dass wir uns fragen: Was sind unsere Werte, und was geschähe, wenn wir konsequent danach lebten? Wenn wir uns nicht nur auf uns selber, sondern auf die Gemeinschaft besinnen würden? Ich bin überzeugt: Dann könnten wir die Schweiz so gestalten, wie wir sie uns wünschen. Wenn wir aufeinander zugehen und in einen offenen Dialog treten, können wir Lösungen schaffen, die für viele und nicht nur für wenige funktionieren.

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