Die Entdeckung der Langsamkeit

Im Jahr 2020 überstieg die Masse von Menschen geschaffener, unbelebter Objekte – die anthropogene Masse - zum ersten Mal das Trockengewicht allen Lebens auf der Erde, einschliesslich Menschen, Tiere, Pflanzen und Pilze und sogar Mikroorganismen. Dabei betrug sie im Jahr 1900 erst 3% der Biomasse. Sie hat sich seither alle 20 Jahre verdoppelt. (2)

Ich bin Designerin. Meine Berufsgruppe hat sich ebenfalls in dieser Zeit entwickelt und ist nicht unschuldig an der Menge unbelebter Objekte. Ich schaffe Neues. Ich erkunde Möglichkeiten, denke Neues und bringen es in die Welt. Das heisst aber auch: ich habe Lust am Wandel. Ich will diese einsetzen für die Gestaltung lebensfreundlicher Prozesse und Lösungen.

Im Catalyst Lab suche ich weitere Methoden, Kompetenzen und Menschen, um meine Lust am Innovieren mit voller Kraft auf eine regenerative Zukunft auszurichten. Was ich mitbringe: einen schnellen Geist, viel Energie und Tatendrang.

"Adults keep saying: we owe it to the young people to give them hope. But I don`t want your hope. I want you to panic.  [...] And then I want you to act."
- Greta Thunberg (3)

Mit meiner getriebenen und hungrigen Art, ist die Ruhe, mit der wir im Catalyst Lab die dringenden Themen unserer Welt angehen ungewohnt und anspruchsvoll. Sie nimmt mir erst den Wind aus den Segeln, dann macht sie mich nervös und kribbelig, und dann versuch ich mich darauf einzulassen.

Denn, wenn es stimmt, dass wir Probleme nicht mit der gleichen Denkweise lösen können, mit der wir sie produziert haben, dann sollte ich Innovationslust und Schnelligkeit mal kritisch untersuchen.

Und ich merke: auch in der Langsamkeit liegt eine Kraft die Veränderung schafft: Wenn sich der Raum dehnt, wenn ich unterstützt werde, ihn zu halten, dann können sich zwischen Erkenntnissen (die ich üblicherweise freudig und schnell aufnehmen, grob integrieren und weitertragen würde) andere, feine Aspekte entfalten. Zwischenräume sind facettenreiche Möglichkeitsräume.

"Between stimulus and response there is a space. In that space is our power to choose our response. In our response lies our growth and our freedom. " (4)

Stellt euch die Freude vor, wenn ich als Vielfalt liebender Mensch diesen Mikrokosmos entdecke. Der ist da, nur sehe ich ihn in der Hektik und Dringlichkeit meiner Missionen kaum. In Zwischenräumen liegt das Potential neuer Verknüpfungen. Ich glaube, sie vervielfältigen (nicht multiplizieren!) meine Denkmuster hin zu flexiblerem, differenzierterem und schliesslich resilienterem Denken und Fühlen.

Das kann ich brauchen. Das können wir brauchen.

"The times are urgent, let us slow down."
- Bayo Akomolafe (5)

So weit so gut. Aber Langsamkeit fällt mir nicht leicht. Wenn meine Gestaltungskraft nicht vorwärts treiben darf, wer bin ich dann? Wieviel Zeit dürfen wir uns lassen? Und wofür? Auch wenn ich in der Langsamkeit Kraft finde, woher nehme ich die Sicherheit, dass ich diese für meine Vision einer regenerativen Zukunft umsetzen kann? Gleichermassen wie meine Ruhe und Klarheit nimmt auch meine Verunsicherung zu. 

Ich bin Teil vom Catalyst Lab, weil ich mich für schnellen und tiefgreifenden Wandel einsetzen will.

Der Spagat zwischen der dringlichen Symptomarbeit – es gibt akute Probleme auf der Welt, für die wir jetzt eine Lösung bereitstellen müssen - und der tiefen Wurzelarbeit – dafür braucht es einen grundlegenden Paradigmenshift - macht mir – und nicht nur mir - zu schaffen. 

In komplexen Systemzusammenhängen gilt es Widersprüche und Gleichzeitigkeiten auszuhalten. Aushalten meint Bleiben: Hinschauen und Zuhören. Und trotzdem agieren können. Handeln, ohne möglichst schnell eine Ordnung zu entwickeln, in der sich die Unsicherheit verstecken kann. Also Handeln, ohne sich dabei in Sicherheit zu wiegen. Das ist schwierig.

Şeyda Kurt schliesst ihr Buch zur radikalen Zärtlichkeit mit den Worten:

"Die Unordnung macht mir manchmal Angst. Und damit bin ich nicht alleine. Doch wir können die Angst überwinden, gemeinsam als Partner*innen, Freund*innen, als Verbündete. Ich halte sie aus. Wir halten sie aus. Wenn wir Angst haben, brauchen wir keine tradierten Ordnungen, an die wir uns klammern. Wir brauchen uns." (6)

Besser kann ich es nicht sagen. Ich will Widersprüche und Gleichzeitigkeiten aushalten. Mit euch.

Anmerkung: Die Zitate, die ich in diesem Text verwendet habe, sind aus ihrem Kontext gerissen: sie beziehen sich auf unterschiedliche Themen. Und vielleicht auch nicht.


(1) Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit, Piper, 2014

(2) Die Studie zur anthropogenen Masse wurde in Nature publiziert und wunderschön und klärend illustriert von Visual Capitalist.

(3) Die Hühnerhautrede von Greta Thunberg am World Economic Forum 2019

(4) Der Autor oder die Autorin zum Satz Space between Stimulus and Response ist nicht bekannt. Er wird häufig Viktor Frankl zugeschrieben. 

(5) Bayo Akomlafe ermutigt in seinem Essay A Slower Urgency dazu, zu entschleunigen und unseren (vor allem westlichen) Anthropozentrisumus zu hinterfragen. Das Zitat selbst ist ein Sprichwort aus seiner Heimat.

(6) Şeyda Kurt, Radikale Zärtlichkeit - Warum Liebe politisch ist, HarperCoolins, 2021

Photo by Rob Sheahan on Unsplash


Blogpost von Miriam Nietlispach, Catalyst 21/22

Miriam Nietlisbacher is an experienced product designer and project manager. For more than 10 years, she has been working for Tribecraft, a company that offers innovation, design and engineering for the development of new products and services. The 39-year-old from Aarau wants to dedicate her expertise to sustainability. She is about to co-found an R&D lab that explores sustainable futures and provides development support for approaching the challenges systemically. The mother of two children has also co-founded a school that offers a learning environment in which children can develop their individual potential and pursue their affinity to discovery.

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